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Kriegskinder und Kriegsenkel – wie vererbte Traumen bis heute wirken

26.03.2022

Inhaltsübersicht
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Etwa ab der Jahrtausendwende wurden Bücher populär, die das Thema Kriegskinder und Kriegsenkel zum Thema hatten.
Sie halfen, den Einfluss längst vergangener Kriegs-Ereignisse auf unser heutiges Befinden bewusst zu machen.

Aber warum hat das überhaupt so lange gedauert, bis das Thema ernsthaft aufgegriffen wurde? Ist der Krieg nicht schon zu lange her, um noch zu wirken?

Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Ukraine-Krieges, möchte ich in diesem Beitrag meine persönliche Sicht auf Kriegstraumen und die Auswirkungen auf mich als Kriegsenkel und auf meine Familie beschreiben, sowie Möglichkeiten zur Bearbeitung des Traumas beschreiben.

Was sind Kriegskinder und Kriegsenkel?

Kriegsenkel sind nach meiner Definition die Enkelkinder der Generation, die aktiv am zweiten Weltkrieg teilgenommen hat oder von ihm direkt betroffen war.

Sie sind also die Kinder der Menschen, die selbst als Kind vom Krieg betroffen waren und unter seinen Aus- und Nachwirkungen in Kindheit und Jugend aufwachsen mussten. Diese nenne ich Kriegskinder.

Ganz grob kann man die Generation der Kriegsenkel deshalb als diejenige beschreiben, die zwischen 1955 und 1985 geboren ist.

Im Beispiel meiner Familie heißt das, dass meine Eltern zum Ende des Weltkriegs gerade geboren bzw. Kleinkinder waren. Ich selbst kam Ende der 60er-Jahre auf die Welt.

Die aktuelle Weltlage, alte Traumen werden reaktiviert

Aktuell kann sich wohl niemand der politischen und wirtschaftlichen Situation der Welt entziehen.
Der Krieg in der Ukraine bringt Ängste und Befürchtungen hervor, vor denen sich viele Menschen bisher erfolgreich abgespalten hatten.
Wie hatten es doch so schön, jahrzehntelang.

Die Erkenntnis, dass das eigene Leben ganz schnell über den Haufen geworfen werden kann, dass Sicherheit nur eine Illusion ist, wird uns nur allzu bewusst, wenn wir mit Bildern der Zerstörung und von flüchtenden Menschen aus dem Kriegsgebiet konfrontiert werden.

Noch erschreckender wird diese Erkenntnis, wenn man auf der Autobahn oder an der Tankstelle jetzt ukrainische Fahrzeuge sieht, die nach Westen zu streben scheinen. Der Krieg, er ist nach heutigen Maßstäben ganz nah.
Der zweite Weltkrieg tobte irgendwo in einer eiskalten Ferne, so unsere Vorstellung. Heute findet er zwar an denselben Schauplätzen statt, ist aber nur noch einige Fahrstunden weit entfernt.

Die Ängste einer Generation, die selbst gar keinen Krieg erlebt hat, sie sind in der Geschichte Europas und insbesondere des deutschen Volkes begründet. In unseren eigenen Familien.

Meine Generation hat eine eigenartige Grundstimmung und ich möchte behaupten, dass es dafür einen kollektiven Grund geben könnte.
Viele Menschen sind aus irgendeinem Grund traurig, depressiv, antriebslos und sonderbar gehemmt, wenn es um Lebensfreude geht.

Ordnung, Streben nach Sicherheit, angeblich typisch deutsche Eigenschaften. Das ist es was uns beherrscht. Und ein Schlüssel ist wohl unsere familiäre Vergangenheit.

Wie die Geschichte in meiner Familie gewirkt hat

Als ich Ende der 60er-Jahre geboren wurde, hatten meine Eltern gerade ein Haus gebaut. Sie waren noch recht jung und bauten zusammen mit den Eltern meiner Mutter.
Für mich als Einzelkind war die Betreuung damit gesichert und ich hatte zunächst eine ganz gute Kindheit. Die Zeit des Wirtschaftswunders war noch nicht vorbei und materielle Sorgen gab es im Wesentlichen nicht.

Aufwachsen ohne große Kontrolle durch die Eltern

Meine Zeit nach der Schule verbrachte ich mit vielen anderen Kindern in der Nachbarschaft. Der angrenzende Wald war unser Revier. Unsere Eltern kümmerten sich im Vergleich zu heute sehr wenig um uns.

Allerdings, schon damals spielten die Jungs am liebsten „Versteckpengpeng“. Mit Spielzeugwaffen versuchte eine Gruppe das Lager der anderen zu finden und anzugreifen. Aus heutiger Sicht ist das für mich sehr befremdlich. Sehe ich irgendwo Kinder mit Waffen spielen, kann ich das heute nicht mehr begreifen. Doch zur Zeit meiner Kindheit dachte sich niemand etwas dabei.

Gerne erinnere ich mich, wie mich mein Opa in seiner Mittagspause mit dem Moped von der Schule abholte. Es vibrierte so stark, dass ich zu Hause kein Gefühl mehr in den Händen hatte. Er kümmerte sich um mich, um Haus und auskommen. Die Urlaube mit meinen Großeltern in Berchtesgaden, davon einen Tag einmal über die Grenze nach Österreich, das war das Weiteste was sie sich zutrauten. Der nahe See im Sommer und viele, viele Wanderungen in der Rhön oder der näheren Umgebung.

Die Schatten der Vergangenheit bei meinem Großvater

Die Schatten der Familienvergangenheit zeigten sich immer wieder aufs Neue an Weihnachten.
Das Fest, bei dem es doch eher ruhig zugehen sollte, war bei uns immer wieder Ursprung von Streit und Ärger.
Denn so lange ich mich erinnern kann, war Weihnachten für meinen Großvater immer eine Gelegenheit, seine Kriegsgeschichten, denen er im Rest des Jahres nicht so stark nachhing, Raum zu geben.
Er erzählte dann immer von der „VauZwo“, von der Krim, wohin man ihn als Soldat geschickt hatte. Von Belgien, von der Gefangenschaft in Russland. Dass er Zeit seines Lebens nie wieder Porree aß, den es dort wohl andauernd gab, das war eine Anekdote.

Dass er außerhalb der Familie, an seinem Arbeitsplatz über seine Erlebnisse sprach, bekamen wir spätestens dann mit, als wir erfuhren, dass man ihm den Spitznamen „General“ verpasst hatte, obschon er es nur zum Gefreiten gebracht hatte.
Noch heute weiß jeder im Ort, der ihn kannte, wer gemeint ist, wenn vom General die Rede ist.

Niemand wollte seine Geschichten wirklich hören, geschweige denn konnte es niemand nachvollziehen, wie verletzt er innerlich war.

Ein Kamerad war neben ihm im Schützengraben erschossen worden, so sagte er manchmal. Da konnte die Familie auch keine nachträgliche Hilfe mehr leisten. Seine Ängste müssen immens gewesen sein.

Von seinem gefallenen Bruder sprach er kaum und machte sich auch nie auf die Suche, irgendwo in Belgien. Viele Jahre später übernahm ich das für ihn, da war mein Großvater schon lange tot.
Und es war ein wichtiger Schritt zur Heilung.

Mein Großvater hätte psychotherapeutische Hilfe gebraucht, das darf ich wohl annehmen. Ob er sie angenommen hätte? Fraglich.

Zeit seines Lebens versorgte mein Großvater die Wunde eines mutmaßlichen Granattreffers an seinem Knöchel mit Salben, Puder und Binden. Die Wunde wollte nie richtig heilen. Irgendwann fiel mir auf, dass auch ich selbst an einem Knöchel Hautstellen habe, die jegliche Pigmentierung vermissen lassen. Die Haut löst sich immer wieder ab. Es gibt eigentlich keinen Grund dafür.

Cholerische Ausfälle, Besserwisserei und Unbelehrbarkeit

Meiner Mutter gegenüber benahm sich mein Großvater leider weniger freundlich als mir gegenüber.
Er war cholerisch, er trank zu viel, er ließ sich nichts sagen. Er kannte seine Grenzen nicht, arbeitete körperlich schwer, obwohl er gerade einen Herzinfarkt erlitten hatte, fuhr betrunken Auto, traf Entscheidungen lieber für sich ohne große Rücksicht.

Jedes Jahr kaufte er ein neues Auto, immer dasselbe, so dass es niemand merken sollte, was natürlich nicht gelang.
Er ließ sich von jedem beraten, nur nicht von der eigenen Familie.

Die Suchterkrankung als „Ausweg“ meiner Mutter

Meine Mutter litt sehr unter ihrem Vater, sie musste sich viele Vorwürfe anhören und geriet daraufhin in eine Suchterkrankung, die durch die Pflege meiner Großmutter, welche Alzheimer entwickelt hatte, nur noch verstärkt wurde.
Sie konnte ihre Sucht erst viel später überwinden, nachdem ihre Eltern beide verstorben waren. Zumindest den stofflichen Teil.
Für die Familie waren die Auswirkungen immens und wirken bis heute nach.

Pläne für den nächsten Krieg, früher völlig normal

In vielen Familien gibt und gab es früher schon Pläne, was man machen kann, wenn ein neuer Krieg droht.
Mein Vater hatte so einen Plan für den Fall, für den Fall, dass „der Russe kommt“. Dabei wuchs mein Vater praktisch ohne Kriegseinfluss auf. Zweiter Weltkrieg in der Kurzversion. Schnell hatten die Amerikaner das Dorf durchfahren. Da war er 6.

In seiner Familie war die Angst vor „dem Russen“ dadurch begründet, denn der eiserne Vorhang keine 10 Minuten Fahrt entfernt war.
Doch hat er gehofft, gerade durch diese Nähe im Ernstfall weniger betroffen zu sein, weil da das dünn besiedelte Land „am Rande des Zauns“ schnell durchquert wird und kein besonderes Ziel abgibt.

Als ich später meinen Wehrdienst ganz in der Nähe des Heimatortes meines Vaters an der Grenze ableistete und wir den Zustand des Kriegsgerätes, in meinem Fall den unserer Radpanzer, durchblickten, desto mehr reifte die Erkenntnis, dass es wohl besser sei, das Fahrzeug lieber zurückzulassen.
Unser Plan war, zu Fuß sicherer zu sein. Und einige russische Wehrpflichtige in der Ukraine handeln aktuell wohl genauso.

Meine Jugend: Ich dachte, das würde mich alles nichts angehen.

In meiner Jugend war ich meist auf mich alleine gestellt.
Meine Eltern waren mit sich selbst beschäftigt.
Meine Mutter war inzwischen schwer alkoholabhängig. Mein Vater drohte fortwährend mit Scheidung, ging aber nicht und zog es vor, seinen Hobbies, Bergsteigen und Sport nachzugehen.
Wirklich anwesend war er bei mir nicht und bis heute habe ich eigentlich keinen „Draht“ zu ihm entwickelt. Er ist mir immer irgendwie fremd geblieben.

War meine Familie einfach nur ein Sonderfall?

Rückblickend betrachtet kann ich nicht behaupten, dass wir eine besonders betroffene Familie waren.
In der Nachbarschaft gab es viele sonderbare Männer.
Leicht reizbare, übergriffige Personen, mit mehr oder weniger sichtbaren äußeren Verletzungen waren überrepräsentiert.
Natürlich konnte ich das als Kind noch nicht einordnen.

Da war ein Einbeiniger, der uns immer mit seiner Krücke jagte, wenn wir den Softball in sein Rosenbeet geschossen hatten.
Ein anderer, dem man einen Kopfschuss bei den Fallschirmjägern nachsagte, der Dinge zerstörte, nur damit sie kein anderer mehr bekam und mit dem es immer um die Grundstücksgrenzen ging. Noch einer, der sich einbildete, meine Mutter wollte etwas von ihm, der scheinbar nicht recht wusste, was zwischen Mann und Frau in Ordnung war und was nicht.
Was war in dem Leben dieser Männer Leben im Krieg geschehen?

An ein Kriegskind von gegenüber erinnere ich mich, das unglücklicherweise den Namen unseres ehemaligen Führers erhalten hatte. Täglich torkelte er schwer betrunken die Straße entlang nach Hause, bis zu einem sehr frühen Tod.

All das waren Menschen, vor denen wir uns als Kinder fürchteten. Teils cholerisch, emotional kaum zu erreichen.

Es gab aber auch einige Witwen, die zusammen mit ihren Kindern lebten und diese nicht recht loslassen konnten. Ein Hang zu Besitz und Bewahrung, das war unverkennbar.

Auswirkungen in der Nachbarschaft bis zum heutigen Tag.

Ich bin der Meinung, die Nachwirkungen kann man bis heute in den meist immer noch ansässigen Familien sehen. Immer noch geht es manchmal um Grundstücksgrenzen, Artefakte aus der Nazizeit, Übergriffigkeiten.
Kinder, die sich nicht ablösen können. Streit um Nichtigkeiten, Misstrauen und Abschottung, obwohl man seit den 60ern nebeneinander wohnt.

Geschichte wiederholt sich. Kinderspiele als Ergebnis des Syrienkrieges.

Seit einigen Jahren habe ich näheren Kontakt zu Familien, die dem Syrienkrieg entflohen sind.
Gerade dort konnte ich beobachten, dass schon die jungen Kinder gerne mit Spielzeugwaffen spielen und die Familien oft auch kein Problem damit haben, Kriegsszenen am Fernseher anzusehen oder Kriegsvideospiele zu spielen. Das ist einigermaßen irritierend.
Ich denke aber, das war einfach deren Realität und es braucht Zeit, diese zu erfassen und das Erlebte zu verarbeiten.
Es ist quasi die Wiederholung unserer kindlichen Spiele im Wald. Befremdlich, aber doch irgendwie verständlich.

Ich, der Kriegsenkel und die Psychotherapie.

Anfang der 90er-Jahre wurde ich in die Suchtklinik meiner Mutter eingeladen zu einem psychologischen Gespräch mit ihr und ihrem Therapeuten. Mein erster Kontakt mit der Psychotherapie.

Es sollte um den Versuch gehen, unser Verhältnis, das aufgrund der Suchterkrankung stark belastet war, zu verbessern.

Ich weiß noch, dass ich so tat, als wären alle Themen für mich bereits erledigt. Schließlich war meine Mutter inzwischen wundersamerweise trocken, nachdem meine Großeltern innerhalb weniger Monate verstorben waren. Sie bekam auch sofort nach der Therapie einen gutbezahlten Job bis zu ihrer Rente. Mein Vater hatte sich letztlich scheiden lassen und wohnte in einem nahen Dorf. Kontakt hatten wir wenig.

Sie werden sich auch irgendwann therapieren lassen müssen.

Der Therapeut sagte einen Satz, den ich bis heute behalten habe: „Sie werden sich auch irgendwann therapieren lassen müssen!“ Ich wusste es damals besser, grinste und ging. Ein Trugschluss. Arroganz gehört auch zur Verletzung.
Er hatte leider nur allzu recht.

Das Verhältnis zu meinen Eltern wurde leider nie wieder so, wie man es sich wohl wünscht. Die Suchtfamilie zerstört sehr effektiv das Zusammenleben.

Vom Leben in den Tag hinein zum Workaholic.

Weil ich mir selbst wenig zutraute, studierte ich Betriebswirtschaft, ohne großen Elan. Das ist ja auch irgendwie ein Klischee.
Ich betrieb eher ein „studium generale“, alles und nichts interessierte mich. Das Studium fiel mir leicht. Ich vertrieb mir die Studienzeit mit komischen Kommilitonen, Partys und Sport.
Lernen, damit eher nicht. Es war auch nicht nötig.

Darüber, was ich später einmal machen wollte, machte ich mir praktisch keine Gedanken. Ich ließ den Tag auf mich zukommen, wollte ernsthaft im Zweitstudium Psychologie studieren.

Kurz danach bekam ich aber mehr zufällig eine Stelle im Finanzvertrieb und stieg dort rasant in die Geschäftsführung auf.
Ich hatte meine Augen und Ohren überall und erkannte alle vermeintlichen Mängel und versuchte sie zu beheben.
Sofort hielt ich mich für unentbehrlich und übernahm alle Aufgaben, die ich bekommen konnte.
Helfersyndrom nennt man das wohl. 60, 70, manchmal 80 Stunden, das Wochenende im Seminarhotel. Kein Problem. Aus heutiger Sicht betrachtet, so viel sinnlos vertane Zeit. So viel Beschäftigung mit Aufgaben, die völlig unnötig waren. So viel wichtiges Getue. So wenig echter Kontakt zu den Menschen.
„Dann hast Du es ja geschafft“, das waren die Worte meiner Mutter, als ich mir nach wenigen Jahren einen Mercedes leistete.

Jeder kommt an seine Grenzen, das ist für mich sicher.

An meine Grenzen geriet ich dann, als die Firma von heute auf morgen in die Insolvenz schlidderte. Ich, in Verantwortung, konnte nichts tun, um das aufzuhalten. Ängste, Panik, Lähmung.

Ich konnte zeitweilig das Bett wegen meiner Ängste nicht verlassen.
Alles geriet aus den Fugen und ich entschloss mich spontan eine Therapie in Anspruch zu nehmen. Vom Hausarzt erhielt ich Medikamente, Antidepressiva, Angstlöser, die ich aber nicht einnahm.

Die Gruppentherapie war allerdings der Anfang einer Rettung, während der all die Familientraumen präsentiert wurden, die ich ererbt und selbst aufgebaut hatte.
Vieles kam ans Licht und wollte jetzt ans Licht gebracht werden.

„Der Prozess hat gerade angefangen“.

Naiv fragte ich meine Therapeutin nach vielleicht einem Jahr, wann das denn beendet sei und erntete ein: „Naja, der Prozess hat gerade angefangen“.
Sehr schön, diese Umschreibung dafür, dass die Weiterentwicklung nie aufhören wird. Ich hatte Glück, ich war zumindest schon einmal im Prozess.

Depression, Trauer, Traurigkeit. Ist das nicht irgendwie dasselbe?

Nachdem ich meinen Arbeitsplatz verloren hatte, musste ich zudem entdecken, dass meine Beziehung, die bisher so nebenbei gelaufen war, nicht wirklich funktionierte.
Und so flog mir auch noch die letzte Sicherheit um die Ohren und ich kam meiner Mutter daraufhin wieder näher, als mir lieb sein konnte.
Ich war vollends depressiv, unfähig auch nur irgendetwas zu tun.

Viele Verletzungen der Kindheit, meiner Kindheit, ihrer Kindheit und die Themen meines Großvaters drängten jetzt danach, angesehen zu werden. Und ich hatte jetzt wirklich ausreichend Zeit dafür.

Spazierengehen war zeitweise das Einzige, was ich noch tun konnte. Ich hatte keine Kraft, war voller Ängste und war unfähig mich zu verändern.

Eine eigentümlich Schwere lag auf meinem Leben. Wie die Schwere einer ganzen Generation. Traurigkeit, Depression. Wo ist der Unterschied?

Die plötzliche, unerwartete Rückkehr der Panik. Erinnerungen an den Krieg.

Auf einem meiner Spaziergänge, die ich manchmal stundenlang unternahm, kam ich am Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewalt in meinem Heimatdorf Dorf vorbei. Dass es da war, hatte ich wohl gewusst, es war schließlich ausgeschildert. Unzählige Male hatte ich das Schild gesehen. Betreten hatte ich den Raum nie.
Dieses Mal ging ich spontan hinein.

Ich war allein. Die typischen Namen des Ortes, der Nachbarn, deren Eltern und Onkel, Brüder und Söhne, die hier graviert sind, ließen mich schluchzend zusammenbrechen.
Obschon meine Familie beiderseits nicht aus diesem Ort kommt, konnte ich mich der Trauer um die viel zu früh Verstorbenen nicht entziehen. Junge Männer 18, 20, höchstens 30 Jahre alt. Jeder hatte einen Toten zu beklagen. Ich war Mitte 40.

Geschockt beschloss ich zumindest symbolisch etwas zu tun und reinigte ein paar Tage später den Ort vom angefallenen Staub und Spinnweben, ohne zu fragen, einfach so.

Wie sieht Krieg aus. Was triggert an.

Nicht viel später, auf einem anderen Spaziergang, bog ich ganz in der Nähe der Gedenkstätte um eine Ecke. Ich erblickte ein Haus, das zum Abriss vorbereitet wurde. Das Dach und die Fenster waren bereits entfernt. Ein ganzes Viertel wurde abgerissen, um es zu sanieren.

Trigger fuer Kriegsenkel
Abriss oder Krieg?

Für mich sah es aus wie an einem Kriegsschauplatz. So stellte ich mir das vor. Am Haus hing ein Zettel, wie ich ihn aus dem Geschichtsunterricht kannte, „Sind bei Familie XY in …“.
Genauso muss es ausgesehen haben in den ausgebombten Städten der Kriegszeit. Schock, Panik.


Ein Weckruf, die Schatten der Vergangenheit anzusehen.

Das wirkte auf mich endgültig wie ein Weckruf. Ich wusste jetzt, die Schatten der Vergangenheit mussten angesehen werden, wollte ich irgendwie wieder ein normales Leben führen.
Es war einfach zu viel des Zufalls, dass mich so etwas so stark antriggerte.
Ich musste jetzt aktiv werden.

Belgien, Scham, tausende Gräber und doch war es ganz einfach.

Kirchenarchive sind sehr hilfreich. Es war nicht sehr schwierig, den Friedhof auszumachen, auf dem meines Großvaters Bruder liegt.
Die Kriegsgräberfürsorge und Kirchenarchive leisten hier gute Dienste.
Dabei standen mir nur eine alte Adresse, bezeichnenderweise die ehemalige Adolf-Hitler-Straße in einer ostdeutschen Großstadt (später dann Karl-Marx-Straße, jede Diktatur hat eben ihre Idole), wo sich damals wie heute eine Postfiliale befindet, und eine ungefähre Zeiteingrenzung des Geburtsdatums zur Verfügung.

An einem ersten Januar fuhr ich schließlich allein nach Lommel in Belgien und suchte einen Tag später das Grab auf. Blumen vom Discounter inklusive.

Ich schämte mich tatsächlich, als ich dem Schild „Duitse Militaire Begraafplaats“ folgend zum Parkplatz hinauffuhr. Die holländische Bezeichnung kann man sicherlich leicht übersetzen.

Duitse Begraafplaats
Lommel, Belgien.

Ein Deutscher, dessen Vorfahren so viel Leid über die Welt und dieses Land gebracht hatten. Ein Deutscher, der schon am Auto sehr leicht zu erkennen war. Ein wirklich mulmiges Gefühl. Gedanken an meine Kindheit, als es noch vorkam, dass Menschen im Elsass kein Deutsch mit uns deutschen Urlaubern sprechen wollten, kamen mir wieder ins Gedächtnis.

Ich fand das Grab auf dem riesigen Areal mit fast 40.000 Gräbern sehr leicht. Direkt neben dem Eingang. Es lag da als hätte es jahrzehntelang auf jemanden aus der Familie gewartet. Auf jemanden, der dem Toten seine Ehre erweist.

Lommel Belgien
Der Bruder meines Großvaters. Einer unter 40.000.

Interessanterweise war der Bruder meines Opas aber gar nicht im Krieg verstorben, sondern erst mehr als ein Jahr später. Vermutlich bei der Arbeit in einem Kohlebergwerk. Es hätte also für die Brüder vielleicht sogar eine Chance für ein Wiedersehen gegeben. Doch war es ihnen nicht vergönnt.

Ein Schritt näher zur Befreiung.

Ich merkte, dass wieder etwas Last von mir abfiel und schaute mir auch viele der anderen Gräber an. Eindrücklich in Erinnerung habe ich die Schleifen und Kränze für einen 30-jährigen Gefallenen, die ihm Kinder und Enkel gestiftet hatten.

Nein, man ist als Kriegsenkel ganz sicher nicht allein. Das Thema wirkt bis heute in sehr vielen Familien.

Ist es damit vorbei? Wie kann es weitergehen?

Der Prozess hat gerade begonnen. So das Zitat meiner Therapeutin. Und der Prozess geht weiter.

Kann der Weg irgendwann vorbei sein?
Von anderen Gefallenen in meiner Familie habe ich nicht gehört. Jeder muss aber seinen Kampf mit den Umständen geführt haben.

Trotzdem merke ich, dass mich immer wieder ähnlich Geschichten antriggern.
So hatte ich eine längere Phase, wo mich Kriegsdokumentationen aus dem Nahen Osten stark interessiert haben.
Auch Filme, die den Alltag in Krankenhäusern oder Rettungsdienste oder Feuerwehr zeigen, sind einflussreich.
Diese anzusehen, bringt mich manchmal zum Weinen, obwohl ich nicht selbst betroffen bin.
Durchlebte Trauer, die mich immer wieder weiter und in die Kraft bringt. Es ist auch oft eine Art Dankbarkeit zu spüren, dass es Leute gibt, die sich um Kranke und Verletzte kümmern. Ich selbst könnte es über eine gewisse Grenze hinaus nicht so einfach.

Nicht nur Krieg. Welche Belastungen wirken sonst noch nach.

Ich musste die Erfahrung machen, dass auch das Thema Diktatur, in meiner Familie speziell das Leben in der ehemaligen „DDR“, gravierend nachwirken kann.

Als im Westen geborenes Kind wuchs ich in meiner Familie auf, die zur Hälfte aus der DDR ausgereist war, als dies noch möglich war. Und bis zum Ende dieses Staates war er immer wiederkehrendes Thema. Selbst die Besuche in der „Zone“, als ich ein Kind war, wirkten lange nach und noch heute habe ich ein manchmal komisches Gefühl, wenn ich wieder dorthin komme.

Schon die letzten Kilometer auf der Bundesstraße in Richtung des Grenzüberganges, an dem uns mein Großvater immer einmal das „Ende der Welt“ präsentiert hatte, waren für mich, auch Jahrzehnte später mit starker Atemnot und Beklemmung verbunden. Warum?

Andererseits kann ich jedes Mal Tränen der Freude vergießen, wenn ich Dokumentationen über den Mauerfall sehe.

Freiheit, ein unentbehrliches Gut.

Freiheit, eines der wichtigsten Güter in meinen Augen. Schade, dass es heute manchmal so verstanden wird, dass man alles machen können will. Statt es so zu verstehen, dass man nicht machen muss, was man nicht will. Darum geht es bei der Freiheit.

Es wird sicherlich noch einmal eine Aufgabe sein, nachzuforschen, ob es Stasiunterlagen über meine Familie gibt. Das ist eigentlich ziemlich sicher. Meine Mutter hatte sich allerdings immer verweigert, in dieses Thema näher einzusteigen. Wenn man schon wenig Verwandtschaft hat, so wollte sie sie nicht auch noch auf diesem Weg verlieren. So mein Eindruck.

Zeit seines Lebens hat mein Großvater auf das Ende der „DDR“ gewartet und es war ihm glücklicherweise vergönnt das zu erleben. Er starb drei Wochen nach der Deutschen Einheit und ich konnte ihm vorher noch einen Besuch in seiner alten Heimat ermöglichen. In seinem Auto, dass er nicht mehr selbst fahren konnte.

Nach seinem Tod hatten wir mehr als ausreichend eingefrorene Butter, gekauft im Sonderangebot eines weiter entfernten Supermarktes. Butter, das gab es nicht im Osten. Sein Luxus war der Gefrierschrank mit einem Halbjahresvorrat.

Sind die betroffen? Was kann der Therapeut für Kriegskind und Kriegsenkel tun?

Aufgabe des Therapeuten ist es meiner Meinung nach, bei unklarer, länger anhaltender Traurigkeit des Patienten, auch mögliche, vererbte Traumata in Erwägung zu ziehen.
Er sollte dem Patienten die Möglichkeit geben an seine Gefühle zu kommen, welcher Art auch immer, egal wie unpassend zur gegenwärtigen Situation sie auch zunächst aussehen mögen.

Ich bin sehr dankbar, dass meine eigene Therapeutin in dieser Disziplin quasi eine Meisterin war und ich viel von ihr lernen durfte.
Zunächst war da viel Trauer, die oftmals erst viel später einordenbar war. Ohne Hinweise von außen, neigt man meiner Meinung nach zu sehr dazu, Traurigkeit und depressive Verstimmung nur mit den aktuellen beruflichen oder familiären Gegebenheiten in Verbindung zu bringen.

Sicherlich sind die aktuellen Belastungen nicht unbeteiligt. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern man sich seine Gegenwart kreiert hat, weil man eben aus der Familienhistorie heraus bereits betroffen ist und möglicherweise familiäre Verhaltensweisen wiederholt, die ganz alt und eingefahren sind. Wenig nützlich, aber bekannt und damit sicher.

Das Brummen der Flugzeuge

Manchmal hat eine Prägung aus dem Krieg auch etwas Positives.
Meine Mutter saß immer sehr gerne in der Sonne und hat die Flugzeuge am Himmel beobachtet. Das ferne Brummen gab ihr ein gutes Gefühl.

Und sie hatte auch eine Erklärung dafür parat. Als sie ein Baby war, kümmerte sich jeder im Luftschutzbunker um sie als die Bombenflugzeuge am Himmel waren. Ein Flugzeug bestieg sie Zeit Ihres Lebens selbst nie.

Kann man das Thema Krieg und Tod jemals vollständig hinter sich lassen?

Ich denke nein. Die alten Verletzungen erhalten täglich neues Futter. Man muss nur die Nachrichten schauen. Aber man kann lernen, besser damit zu leben und seine Gefühle auszudrücken.

Stärken der Betroffenen.

Betroffene haben auch Fähigkeiten und Stärken entwickelt, die durchaus nützlich und wünschenswert sind. So gibt es bei vielen Menschen eine tiefgehende Empathie für Opfer aktueller Kriege. Man sah das, als syrische Flüchtlinge ankamen, man sieht das heute, wenn ukrainische Menschen flüchten müssen. Sogar Syrer helfen jetzt, denn sie wissen, was vor sich geht.

Eine Therapie hilft, schneller wieder einen klaren Kopf zu bekommen und nicht in Panik zu verfallen, wenn wieder schlechte Nachrichten aus der Welt eintreffen. Bei sich zu bleiben und nicht innerlich zu flüchten.

Gedanken machen Gefühle. Von daher wäre es wünschenswert, wenn man lernt, seine Gedanken besser zu steuern und sich nicht von ihnen überrollen zu lassen. Niemand sagt, dass das leicht ist.
Der Therapeut kann dabei helfen. Schritt für Schritt.

Tut es etwas zur Sache, was die eigenen Verwandten im Krieg getan haben?

Machen wir uns nichts vor. Es geschahen schreckliche Dinge im Weltkrieg und in den Kriegen danach. Und irgendwo müssen auch die Schuldigen und Ausführenden gewesen sein.

Werden diese Kriegstaten in der Familie verdrängt, haben sie die Tendenz, sich immer wieder zu zeigen. Anschauen tut zwar weh, macht aber Frieden.

Denn auch den Tätern gebührt eine gewisse Ehre. So komisch es klingt.
Sie waren verblendet, wussten es manchmal nicht besser. Sie sind einer verbrecherischen Ideologie gefolgt. Das einzusehen ist immens schwer.

Warum haben die Kriegsteilnehmer ihre Traumen nicht selbst bearbeitet?

Man muss sich im Klaren sein, dass Psychotherapie für alle eine eher neumodische Erscheinung ist. Und für die jüngste Vergangenheit gab es in der Nachkriegszeit nur wenig Interesse vor dem Hintergrund drängenderer Probleme.

Vielleicht war es deshalb nicht früher möglich etwas aufzuarbeiten. Vielleicht war es für die ursprünglich Betroffenen einfach zu schmerzvoll.
Vielleicht müssen Kriegsfolgen sogar von einer Nachfolgegeneration abgearbeitet werden. Nicht umsonst heißt es, dass für echte Veränderung erst einmal eine Generation aussterben müsse.

Von meines Großvaters Bruder gibt es ein Bild, wo er vor dem Krieg mit einem Gewehr salutiert. Hätte er gewusst was kommt, hätte er dieses Bild gemacht? Hätte er die Unteroffizierslaufbahn angetreten, wenn er geahnt hätte, was kommt?

Ich denke, man darf die Taten keinesfalls schönreden.
Man muss sie ins Licht bringen, die Opfer ehren.
Aber auch die Täter nicht nur verdammen.
Letztlich ist jeder ein Opfer der Zeitumstände.

Der Mensch, der nicht dabei war, kann sich schwer als Richter gebärden. Das ist anmaßend. Wer weiß, wie wir reagiert hätten, hätten wir in dieser Zeit gelebt.

Zusammenfassung und Fazit

Schwere Traumata aus Kriegen oder Diktaturen wirken sich bis heute auf die Nachfahren der Betroffenen aus. Kinder und Enkel von Kriegsteilnehmern sind als Nachfahren betroffen.

Bei länger anhaltender, unklarer Traurigkeit oder depressiver Verstimmung, sollte man durchaus an eine solche generationenübergreifende Belastung denken.

Die nachfolgenden Generationen haben die Möglichkeit, indem sie mit ihren Gefühlen in Kontakt kommen, der ganzen Familie zu helfen.
Das ist der beste Dienst, den sie ihrer Familie und sich selbst tun können.

Aufgabe des Therapeuten ist es, zu ermutigen, sich der eigenen Familiengeschichte zu stellen, auf die Suche zu gehen und die aufkommenden Gefühle in Begleitung zu erleben und schließlich zu verabschieden.

Trauer, einmal durchlebt, führt dazu, dass Energie zurückkommen kann und wieder Hoffnung einkehren kann.

Im Soldatenfriedhof in Belgien sah ich ein Schild mit der Aufschrift:

„Das Volk ist nicht edel, das seine Toten nicht ehrt.“


Von Schuld und Sühne steht da erst einmal nichts.
Dem stimme ich ganz ausdrücklich zu.