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Hochsensibilität – Erkrankung oder doch ein Fall für Therapie?

Okt. 2025 | Begriffe aus Psychologie und Psychotherapie, Symptome psychischer Störungen

Der Begriff „Hochsensibilität“, so scheint es, ist aus Ratgebern, Coaching-Angeboten und Therapie-Webseiten kaum mehr wegzudenken.

Sogar Kliniken haben sich inzwischen auf Angebote für Hochsensible spezialisiert und Menschen, die sich in den angebotenen Beschreibungen wiederfinden, spüren eine gewisse Erleichterung: Endlich gibt es ein Wort für das, was sie schon lange erleben – das Gefühl, Reize intensiver wahrzunehmen als andere.

Aber ist man deshalb gleich ein Patient und braucht gar psychotherapeutische Behandlung?

Je stärker sich der Begriff verbreitet, desto wichtiger wird die Frage:
Handelt es sich um ein klar umrissenes psychologisches Konzept, eine vage Sammelkategorie oder gar eine Art Ersatzdiagnose, in der sich viele Betroffene wiederfinden.
Haben Menschen mit Hochsensibilität eigentlich ganz unterschiedliche Hintergründe und damit auch andere Anforderungen an eine Psychotherapie?

Woher kommt der Begriff der hochsensiblen Menschen

Geprägt wurde der Begriff Hochsensibilität in den 1990er-Jahren von der amerikanischen Therapeutin Elaine Aron in ihrem Buch The Highly Sensitive Person. Aron beschrieb darin ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich durch eine besondere Empfindsamkeit gegenüber inneren und äußeren Reizen auszeichnet: Lärm, Geräusche, Gerüche, Licht, Emotionen anderer Menschen – all das wird intensiver wahrgenommen und beinflusst das Wohlbefinden in vielen Lebensbereichen.

Es ist sicher kein Zufall, dass das Thema gerade in dieser Zeit aufkam. Ab den 1980er Jahren beschleunigte sich die Welt spürbar. Deregulierung, Globalisierung, technologische Innovationen, ständige Erreichbarkeit, Informationsflut – das Leben wurde lauter, schneller und deutlich komplexer.
Empfindsamkeit, die es wohl schon immer gab, trat sichtbarer zutage, weil sich das Umfeld verändert hatte.

Hochsensibilität wurde so zum Namen für ein Lebensgefühl, das viele in dieser neuen, reizintensiven Welt plötzlich stärker wahrnahmen. Und es scheint, dass dieser Begriff heute zunehmend pathologisiert wird – also eher als Erkrankung gelesen, statt als Temperamentsmerkmal oder auch als besondere Begabung.

Keine Diagnose – und Tests sagen wenig bis nichts aus

So verbreitet der Begriff heute ist und sich viele das wünschen: Hochsensibilität ist keine anerkannte Diagnose. Weder die World Health Organization (ICD-11) noch die American Psychiatric Association (DSM-5) führen sie als Krankheitsbild.

Auch die gängigen Hochsensibilitäts-Tests (HSP-Tests), die im Internet kursieren, sind keine wissenschaftlich validierten Diagnoseinstrumente. Sie können zwar ein subjektives Empfinden bestätigen, sagen aber nichts über Ursachen oder klinische Relevanz aus.

Fakt ist aber: Viele Merkmale, die mit Hochsensibilität in Verbindung gebracht werden – etwa emotionale Intensität, Reizüberflutung, übergroßes Einfühlungsvermögen, soziale Empfindlichkeit oder Rückzugsbedürfnis – finden sich auch in bereits bekannten psychischen Störungsbildern wieder. Hochsensibilität zu erkennen bedeutet daher, genau hinzusehen: Liegt hier tatsächlich ein Persönlichkeitsmerkmal vor – oder sind es Anzeichen einer tieferliegenden psychischen Belastung?

Manche Therapeuten sprechen auch vorsichtig von „neurotischen Strukturen“, die nicht zwangsläufig krankhaft sind, aber auf bestimmte Verarbeitungsmuster hinweisen, die sich über Jahre entwickelt haben.

Es gibt sicherlich Gründe für das Störungsbild und dem kann man in der Psychotherapie auf den Grund gehen.

Hochsensibilität erkennen. Ist es eine Erkrankung?

In Therapieangeboten, Kliniken oder psychosomatischen Einrichtungen wird deutlich: Viele hochsensible Menschen leiden nicht an „Hochsensibilität an sich“, sondern an Überforderung, Überreizung, Erschöpfung, Daueranspannung oder sogar Burnout (auch Burnout ist keine Diagnose).

Menschen reagieren unterschiedlich, und jeder bringt eine andere Prägung mit. Was für den einen Belastung ist, ist für den anderen vielleicht anregend oder aktiviert seine Kreativität. Das macht eine Ursachenforschung auch so schwierig.

Psychotherapie kann hier unterstützen – nicht, um „Hochsensibilität zu behandeln“, sondern um Stabilität, innere Grenzen und Entspannung zu fördern. Therapie kann helfen, mit der Beeinträchtigung umzugehen.

Im Zentrum einer Therapie bei Hochsensibilität stehen dabei:

  • der Umgang mit Stress und Reizüberflutung
  • die Abgrenzung von äußeren Einflüssen
  • das Erkennen erlernter Muster (z. B. ständige Wachsamkeit)
  • die Einordnung möglicher begleitender psychischer Störungen (z. B. Angststörungen, Depression, psychosomatische Beschwerden, Erschöpfung, etc.)
  • ganz allgemein: das Erkennen und Behandeln tatsächlicher Erkrankungen

Eines lässt sich festhalten: Es gibt ein erhöhtes Risiko für psychische Belastungen bei hochsensiblen Menschen – nicht weil sie „krank“ sind, sondern weil sie Reize und Stimmungen eben oft sehr fein und tief verarbeiten. Mann kann es positiv sehen: Weil sie vielleicht besondere Empathie besitzen.

Hochsensible Menschen: angeboren, erlernt – oder beides?

Die Forschung, um Hochsensibilität  besser zu verstehen, ist immer noch überschaubar. Hinweise deuten darauf, dass Temperament und Gene einer Persönlichkeit eine Rolle spielen könnten. Ebenso klar ist aber: Umwelt und frühe Bindungserfahrungen, letztlich unsere kindlichen Erfahrungen prägen die Art, wie Menschen Reize verarbeiten.

Gerade bei Menschen, die in emotional instabilen Familien aufgewachsen sind – etwa mit Sucht, Gewalt, Übergriffen, Vernachlässigung oder Rollenvertauschung – lässt sich oft beobachten:

  • früh entwickelte Wachsamkeit („Gefahr früh erkennen“)
  • feine ausgeprägtes Gespür für Stimmungen anderer
  • Schwierigkeiten, die eigene Wahrnehmung von der der anderen zu trennen
  • hohe Anpassungsbereitschaft
  • helfen wollen, um Stimmungen zu regulieren

Diese früh erlernten Schutzmechanismen ähneln dem, was heute unter „Hochsensibilität“ beschrieben wird – und können ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis sein.
Therapeutisch kann man dabei helfen, diese Muster zu erkennen und konstruktiv damit umzugehen.

Kinder zwischen Sensibilität und Ablenkung. Intensive Reize im Alltag.

Ein oft übersehener Aspekt: Verändert hat sich nicht nur die Welt der Erwachsenen, sondern auch die der Kinder.
Digitale Medien, Dauerbeschallung, Social Media, Multitasking – die Reizdichte, der Kinder heute ausgesetzt sind, war in den 1990er-Jahren kaum vorstellbar. Damals gab es einfach mehr Struktur, Einfachheit im Tagesablauf und Ruhe.

Wenn ein Kind heute unkonzentriert, überfordert oder reizempfindlich wirkt, stellen sich die Fragen:
Ist es wirklich hochsensibel oder empfindlich? Oder ist es einfach permanent überstimuliert und abgelenkt?
Steht vielleicht ein ganz anderes Bedürfnis dahinter? Sind Phasen der Empfindlichkeit in der Entwicklung normal?

Nicht jede Überreizung ist ein Persönlichkeitsmerkmal – oft ist sie schlicht eine Reaktion auf eine reizintensive Umwelt. Deshalb ist es wichtig, nicht vorschnell Etiketten zu vergeben, sondern Kontext, Erziehung und Lebensumfeld mitzudenken.

Eltern sollten klare Strukturen vorgeben. Jetzt machen wir das und danach machen wir etwas anderes.

Therapie: Nicht für ein Etikett, sondern für hochsensible Menschen

Therapie, insbesondere Psychotherapie kann für Betroffene sehr hilfreich sein – weil sie Muster sichtbar macht, die oft unbewusst wirken. Ein erfahrener Therapeut kann helfen, zwischen Temperamentsmerkmalen, Reizbarkeit und belastenden Symptomen mit Krankheitswert zu unterscheiden.

Wichtig ist, nicht in einer unkritischen Selbstzuschreibung stehenzubleiben und sich mit anderen Betroffenen darin zu verstärken, sondern:

  • mögliche andere psychische oder psychosomatische Ursachen abzuklären
  • individuelle Bewältigungsstrategien zu entwickeln
  • Techniken der Entspannung zu erlernen
  • zu lernen, Reize zu regulieren und damit konstruktiv umzugehen, statt sich ihnen ausgeliefert zu fühlen

Zusammenfassend: Ist Psychotherapie bei Hochsensibilität sinnvoll. Welche Wege gibt es?

Hochsensibilität kann durchaus ein hilfreiches Konzept sein, um das eigene Erleben besser zu verstehen. Aber es ist keine Diagnose oder psychische Erkrankung an sich.

Ein Test ist kein Ersatz für eine fundierte Abklärung der Persönlichkeitsmerkmale und möglicher ernsthafter Erkrankungen.

Viele Menschen, die sich als hochsensibel erleben, haben sehr individuelle Geschichten – manche sind temperamentbedingt empfindsamer, andere haben früh gelernt, wachsam zu sein, wieder andere sind einfach in einer reizüberladenen Welt erschöpft.

Wer darunter leidet, sollte nicht nach schnellen Etiketten oder Selbsttests greifen, sondern im bewährten Spektrum psychischer und psychosomatischer Störungen prüfen, wo Unterstützung wirklich sinnvoll ansetzt.

Sensibilität für Umweltreize ist nicht das Problem. Es ist eine Gabe, die vielleicht eher der Normalfall ist, als die Ausnahme, die als Krankheit gesehen wird.
Die Art, wie wir damit umgehen – individuell und gesellschaftlich – macht den Unterschied.